Canterbury
- ssu-office
- 22. März 2019
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Gerade einmal 90 km südwestlich von London gelegen befindet sich die mittelalterliche Kathedralenstadt Canterbury in der Grafschaft Kent. Das Städtchen kommt zwar nur auf 40.000 Einwohner, gehört aber mit seinem Reichtum an historischen Sehenswürdigkeiten zu einem der beliebtesten Ausflugsziele Großbritanniens.
Canterburys Besiedlung geht bis in die Altsteinzeit zurück, danach folgten die Kelten und schließlich im 1. Jahrhundert die Römer. Deren Spuren sind noch heute in Form der teilweise erhaltenen Stadtmauer und dem Grabhügel Dane John Mound zu sehen. Nach der Christianisierung von König Æthelberht von Kent im 7. Jahrhundert erlangte Canterbury schließlich große religiöse Bedeutung. In den folgenden Jahrhunderten entstanden zahlreiche Klöster, Kirchen und Kathedralen, die die Stadt zu einem Wallfahrtsort machten. Die berühmte Kathedrale von Canterbury, The Cathedral of Christ Church, wurde 597 gegründet und ist Sitz des Erzbischofs von Canterbury, welcher der Church of England und der anglikanischen Gemeinde weltweit vorsteht.

Neben der Kathedrale gehören auch die Abtei St. Augustinus und die Kirche St Martin's Church – beide aus dem 6. Jahrhundert – zum UNESCO-Weltkulturerbe. Canterbury wurde im Zweiten Weltkrieg durch die deutsche Luftwaffe stark beschädigt, was den Mix moderner und historischer Bauwerke erklärt. Der mittelalterliche Stadtkern geht nach Südosten in ein Einkaufsparadies für Shoppingfreudige über: morgens eine Bootstour auf dem Great Stour entlang der Weberhäuser aus der Zeit der Hugenotten und ein Besuch des Canterbury Roman Museum mit seinem beeindruckenden, 1.700 Jahre alten Mosaik, nachmittags Schnäppchenjagd bei Debenhams und Marks & Spencer.
Canterbury hat einige englische Berühmtheiten hervorgebracht: Shakespeares Zeitgenosse und Schriftstellerkollege Christopher Marlowe wurde hier geboren, genauso wie Detective Inspector Edmund Reid, der in den frühen Jack the Ripper-Mordfällen ermittelte. Der Schauspieler Tom Wilkinson besuchte hier die University of Kent und Herz der Finsternis-Autor Joseph Conrad fand auf dem Canterbury Cemetery seine letzte Ruhe.

Canterbury soll der Sage nach 900 v. Chr. von Rudilibas angelegt und von den alten Briten Caerther oder Caerkent (Stadt von Kent) genannt worden sein. Ab 43 n. Chr. entstand an ihrer Stelle das römische Durovernum Cantiacorum (römisch: duro = „Fort“, verno = „Sumpf“), das sich zu einem Verwaltungszentrum entwickelte und das größte römische Theater Britanniens besaß; ab 200 n. Chr. wurde die Stadt mit einer Stadtmauer umgeben. Æthelberht von Kent, der ab 568 n. Chr. regierte, machte Canterbury zu seiner Residenz und nannte sie Cantwarabyrig.
Nach dem Übertritt der Angelsachsen zum Christentum wurde die Stadt Sitz des Erzbischofs-Primas, dem geistlichen Oberhaupt der Kirche von England und der anglikanischen Kommunion. Die Erzbischöfe von Canterbury werden seit dem Bruch Heinrichs VIII. mit Rom vom englischen König (später britischen König) bestimmt.

Die Kathedrale von Canterbury ist in Form eines erzbischöflichen Doppelkreuzes erbaut und hat von Ost nach West eine Länge von 160 Metern sowie in ihren zwei Querschiffen eine Breite von 48 und 40 Metern. Der älteste Teil ist die um 1070 erbaute Krypta. Das Kirchenbauwerk ist die Grabstätte von König Heinrich IV. von England und von Edward of Woodstock, dem „Schwarzen Prinzen“. Vor allem wurde sie berühmt durch den Mord an Thomas Becket im Jahre 1170. Sein längst verschwundener Schrein war bis zur Reformation das Ziel Tausender Wallfahrer, etwa Geoffrey Chaucer, der seine Canterbury Tales 1387 schrieb.
Der Mord an Thomas Becket ist Gegenstand in den Dramen von George Darley (1840), Alfred Tennyson (1884) und Jean Anouilh (1959) sowie in T. S. Eliots Theaterstück Murder in the Cathedral (1935), das im Chapter House uraufgeführt wurde und in Ken Folletts Roman Die Säulen der Erde.
Die Erzählungen der Canterbury Tales (deutsch: „Canterbury-Geschichten“) des mittelalterlichen Dichters Geoffrey Chaucer sind in eine Rahmenhandlung eingebunden, die von einer Pilgergruppe auf ihrem Weg von London nach Canterbury zum Grabmal von Thomas Becket handelt. Die Themen der Erzählungen variieren und beinhalten höfische Liebe, Verrat und Habsucht. Die Genres variieren ebenso, es gibt Romanzen, bretonische Lai (kurze rhythmische Erzählungen), Predigten und Fabeln. Hier ein Beispiel aus dem mittelenglischen Text des 14. Jahrhunderts.

Canterbury entwickelte sich in römischer Zeit als besagtes Durovernum Cantiacorum zu einer bedeutenden Siedlung. Nach der Christianisierung Kents wurden einige frührömische Kirchen wieder für den Gebrauch hergerichtet, so z. B. St. Martin und die damals an der Stelle der jetzigen Kathedrale befindliche Kirche. Seit jener Zeit ist Canterbury Mittelpunkt der Kirche in England und Anziehungspunkt für viele Besucher; nach der Ermordung von Thomas Becket waren das vor allem Wallfahrer. Im 12. Jahrhundert avancierte Canterbury zur zweitgrößten Münzstätte Englands nach London. Im 16. Jahrhundert setzte dank der Einführung der Weberei durch die Hugenotten, die als Religionsflüchtlinge vom Festland kamen, ein wirtschaftlicher Aufschwung ein. Im Jahr 1888 erhielt die Stadt Grafschaftsrechte, obwohl sie bis dahin von der Industriellen Revolution kaum berührt wurde und die Zahl der Einwohner nur geringfügig zugenommen hatte.

Die Stadt blieb über lange Zeit weitgehend unverändert, wurde aber im Zweiten Weltkrieg durch die deutsche Luftwaffe bei den „Baedeker-Vergeltungsangriffen“ auf kulturell bedeutende Städte Englands im Jahr 1942, vor allem am 1. Juni, stark beschädigt. Seitdem hat sich Canterbury zu einer modernen Stadt und einem wichtigen Einkaufszentrum entwickelt, mit großem Freizeitangebot, guten Verkehrsverbindungen und vielfältigen Unterkunftsmöglichkeiten. Weil viele historische Bauwerke erhalten blieben, konnte der mittelalterliche Charakter des Stadtkerns bewahrt werden. Bemerkenswert sind außer der Kathedrale auch die vielen anderen alten Kirchenbauwerke in der Stadt. Erwähnenswert sind hier u. a. Greyfriars, St Martin’s Church und St. Dunstan's Church.
Ein Großteil der Stadtmauer ist unversehrt; von den sechs alten Toren ist nur noch eins, das Westgate, aus der Zeit Richards II. erhalten; es beherbergt heute ein Museum. Am Fluss Stour entlang reihen sich die historischen Weberhäuser aneinander, und weiter flussabwärts liegen die Klöster der Blackfriars und Greyfriars aus dem 13. Jahrhundert. Canterbury bietet eine Vielzahl weiterer historischer Sehenswürdigkeiten wie den Bergfried des ehemaligen normannischen Canterbury Castles oder die normannische Treppe der King’s School. Einige von ihnen haben berühmten Dichtern und Schriftstellern als Anregung gedient. Christopher Marlowe wurde in Canterbury geboren und in St. Georg getauft. Trotz seiner engeren Bindungen an Rochester und Broadstairs wählte Charles Dickens als Schauplatz seines Romans David Copperfield Canterbury.

Neben der Kathedrale von Canterbury ist auch die St Martin’s Church Weltkulturerbe.
Das Canterbury Heritage Museum informiert über die Stadtgeschichte in eindrucksvollen Inszenierungen, während das Canterbury Tales Museum über Chaucer und seine Zeit berichtet. Im Roman Museum ist ein Mosaik in situ erhalten. Im mittelalterlichen Westtor befindet sich ein kleines militärhistorisches Museum, das unter anderem auch deutsche Beutestücke aus den beiden Weltkriegen zeigt.
Canterbury hat zwei Bahnhöfe und liegt an der Schnellstraße A2 nach London. Über das Schienennetz ist die Stadt an den Eurostar angebunden, der in Ashford (in 25 Kilometer Entfernung) hält. Ab dort gibt es Direktverbindungen nach London-St Pancras, Paris und Brüssel. Das Straßennetz verbindet Canterbury über die Autofähren des benachbarten Dover mit dem europäischen Festland. Ab 1830 gab es mit der Bahnstrecke Canterbury–Whitstable 120 Jahre lang eine direkte Schienenverbindung von der 10 Kilometer nördlich gelegenen Hafenstadt Whitstable.

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